Die Samurai waren japanische Krieger. Nur ihnen war es erlaubt, ein Schwert zu tragen und es zu benutzen. Die Samurai waren sehr streng zu sich selbst. Stets übten sie, das Schwert vollkommen zu beherrschen und – das war ihnen noch wichtiger – sich selbst vollkommen zu beherrschen!
Bokuden war ein besonderer Samurai. Er gehörte zur „Ohne-Hand-Schule“. Diese Samurai-Schule kämpfte mit dem Schwert, ohne die Hand an das Schwert legen zu müssen!
Außerdem war Bokuden ein Schelm. Seine Geschichten erzählt man sich in Japan seit alten Zeiten. Wir lernen daraus nicht nur Japan besser kennen, sondern auch uns selbst. Oder?
Die Schwertprobe
Bokuden hatte drei Söhne, die er zur Ausbildung einem Schwertmeister in die Lehre gab.
Als die Ausbildung beendet war, rief Bokuden die Söhne zu sich und sprach: „Liebe Söhne, ihr seid gelehrt worden, ein Schwert zu bedienen. Jedoch, bevor ich die Erlaubnis gebe, fortan das Schwert zu führen, werde ich euch auf eine Probe stellen. Geht nun und wartet draußen. Einzeln werde ich euch rufen!“
Bokuden trat in ein Zimmer, das durch einen Vorhang in zwei Hälften geteilt war. Auf die Vorhangleiste legte er ein kleines Kissen, das leicht herunterfiel, wenn man den Vorhang berührte. Dann rief der Samurai seinen ersten Sohn.
Der erste Sohn trat herein. Als er den Vorhang zur Seite zog, fiel das Kissen herunter. Er bückte sich, hob es auf und legte es an seinen Platz zurück. Er ging zum Vater und sprach: „Hier bin ich, Vater. Die Probe kann beginnen.“
Bokuden lächelte und sprach: „Warte mein Sohn.“ Dann rief er den zweiten Sohn.
Der zweite Sohn betrat das Zimmer. Als er den Vorhang öffnen wollte, sah er das Kissen. Er nahm es herab, zog den Vorhang auf, legte das Kissen an seinen Platz zurück, ging zum Vater und sprach: „Hier bin ich, Vater. Die Probe kann beginnen.“
Bokuden lächelte und sprach: „Warte, mein Sohn.“ Dann rief er den dritten Sohn.
Der kam rasch herein und riss den Vorhang auf. Da fiel das Kissen herunter. Doch bevor es den Boden berührte, hatte der Sohn das Schwert gezogen und das Kissen in zwei Hälften zerteilt. Dann ging er zum Vater und sprach: „Hier bin ich, Vater. Die Probe kann beginnen.“
Bokuden lächelte und sprach: „Die Probe, liebe Söhne, ist schon beendet.“ Und setzte mit bekümmerter Miene hinzu: „Nur einer von euch hat sie bestanden.“
Der Samurai wandte sich an seinen ersten Sohn: „Du, mein Sohn, musst noch fleißig üben!“
Zum zweiten sprach er: „Du, mein Sohn, bist würdig, ein Schwert zu führen.“
Zum dritten gewandt, aber sprach Bokuden: „Dir, mein Sohn, sollte niemals erlaubt werden, ein Schwert zu führen, denn du bist ein Unglück für die Familie.“
Der Schwertkampf
Eines Tages fuhr Bokuden in einem großen Boot über einen See. Unter den Mitreisenden befand sich auch ein wild dreinblickender Samurai, der durch hochmütiges Gerede auf sich aufmerksam machte. Vor allem prahlte er mit seiner Gewandtheit, ein Schwert zu handhaben und behauptete, es gäbe wohl keinen zweiten, der es ihm in dieser Kunst auch nur annähernd gleichtun könne.
Während die meisten der Mitreisenden ihm bewundernd zuhörten, sah Bokuden lächelnd beiseite, als ginge ihn das Gerede gar nichts an. Das reizte den Prahlenden außerordentlich. Er trat vor Bokuden hin, stieß ihn an und fragte spöttisch: „Wie ich sehe, tragt Ihr auch ein Schwert. Weshalb sagt Ihr nichts?“
Bokuden schüttelte lächelnd den Kopf und antwortete ruhig: „Ganz sicher verstehe ich das Schwert zu führen. Aber auf andere Weise, nämlich andere nicht zu besiegen und auch selbst nicht besiegt zu werden.“
Diese Antwort empfand der wilde Samurai erst recht als Herausforderung. „Zu welcher seltsamen Schule zählt Ihr euch dann?“ fragte er höhnisch.
„Zur Ohne-Hand-Schule“, sagte Bokuden schlicht und meinte die Schule, die ihre Schüler dazu erzieht, einen Gegner zu besiegen, ohne das Schwert zu berühren.
„Und wozu tragt Ihr dann überhaupt ein Schwert?“ lachte der Samurai. „Aber ich verstehe schon. Am Ende verhält es sich so, dass Ihr überhaupt nicht damit umgehen könnt. Und ein Feigling seid Ihr obendrein!“
Doch auch diese Beschimpfung brachte Bokuden nicht aus seiner Ruhe. Lächelns sah er auf den See, auf dessen glatter Fläche sich die Sonne spiegelte.
„Hört!“ rief der grimmige Samurai mit vor Zorn hochrotem Gesicht. „Soll das bedeuten, dass Ihr so vermessen seid, ohne Schwert gegen mich zu kämpfen?“
„Warum nicht?“ entgegnete Bokuden.
Da schrie der Samurai dem Fährmann zu, er solle schleunigst ans nächste Ufer fahren, wobei er vor lauter Ungeduld bereits anfing, das Schwert zu lockern.
Indessen riet Bokuden, doch lieber eine entferntere kleine Insel anzusteuern; am bewohnten Ufergelände könnten aus Neugierde viele Leute zusammenlaufen und in Mitleidenschaft gezogen werden.
Da auch das dem Herausforderer recht war, hielt das Boot auf eine kleine öde Insel zu, die nicht gar zu weit ab lag.
Sobald man dort angekommen war, sprang der Samurai an Land und bereitete sich auf den Zweikampf vor. Bokuden legte sein Schwert ab und übergab es dem Fährmann. Dann schickte er sich an, gleichfalls an Land zu gehen, wandte sich aber blitzschnell um, riss dem Fährmann das Ruder aus den Händen und stieß das große Boot mit Kraft vom Ufer ab.
„He, Mann! Was soll das heißen?“ schrie der verdutzte Samurai.
„Das heißt Ohne-Hand-Schule“, antwortete Bokuden gemütlich, setzte sich auf die Holzbank und freute sich auf die Weiterfahrt über den schönen See.